Trophäen aus dem Stadtgebirge
Bettina Klein
 

Am 11. August des Jahres 1921 kletterte der Elektromonteur Willi Schöller mit seinem Kollegen Leo Wörner auf die Spitze des Heilbronner Kilians–turm und führte dort, auf dem Kopf der »Männle«-Figur, einen Handstand aus. »Etwas, was nicht alle Tage vorkommt und nicht jeder nachmachen wird«, so äußerte sich die Lokalpresse seinerzeit zu dem unwahrscheinlichen Ereignis, das auf einer historischen Postkarte auch fotografisch dokumentiert wurde.

Fast hundert Jahre später wieder-holen Matthias Wermke und Mischa Leinkauf die Aktion, nicht anlässlich einer Wette, wie damals Schöller und Wörner, sondern im Vorfeld ihrer Ausstellung im Heilbronner Kunstverein. Der Handstand auf dem Kiliansturm ist bei Weitem nicht die erste halsbrecherische Aktion der beiden, wobei Leinkauf fast immer die Kameraführung und Wermke den performativen Part übernimmt.

Die Verbindungen zwischen zeitgenössischer Bildender Kunst und Akrobatik sind weder offensichtlich noch besonders zahlreich, sieht man von wenigen prominenten Ausnahmen wie etwa den 8 Natural Handstands von Robert Kinmont oder Trisha Browns Man Walking Down the Side of a Building ab. Kinmont führte seine Handstände in der Wüste, in einem Flussbett, einer Waldlichtung oder auf einem Felsvorsprung aus und dokumentierte mit der 1969 entstandenen Fotoserie existenzielle Erfahrungen in der Einsamkeit der kalifornischen Landschaft. Nur ein Jahr später ließ Trisha Brown einen Tänzer (ihren Mann Joseph Schlichter) waagerecht an der Fassade eines Gebäudes in der Wooster Street in Manhattan hinuntergehen, gesichert mit einem Klettergurt. Sie beschrieb die Aktion damals als »a natural activity under the stress of an unnatural setting. Gravity reneged. Vast scale. Clear order. You start at the top, walk straight down, stop at the bottom.«1

Diese beiden legendären Arbeiten evozieren einige Punkte, die auch für die Aktionen von Wermke Leinkauf essenziell sind: eine extreme körperliche Erfahrung bei der Überwindung von Schwerkraft, das Individuum in seinem Verhältnis zur Stadt- bzw. zur Naturlandschaft sowie einen streng konzeptuellen Ansatz, der auch bei der dokumentarischen Erfassung der Performances durchgehalten wird.2 Wie bei Kinmont finden auch Wermke Leinkaufs Arbeiten ohne Publikum statt (mit Ausnahme von zufällig vorbeikommenden Passanten). Und so spektakulär die Aktionen auch sein mögen: In der Dokumentation werden sie so beiläufig dargestellt, dass ein unaufmerksamer Betrachter sie durchaus übersehen könnte. Sie nehmen einerseits den Takt des Stadtlebens auf und stellen andererseits eine Zäsur dar, einen Bruch mit Konventionen und der Vorstellung einer durchorganisierten und -strukturierten Stadt. So zeigt beispielsweise der auf Super 8 gedrehte Film Grenzgänger einen jungen Mann, der frühmorgens die Spree durchschwimmt, vom Marie-Elisabeth-Lüders-Haus am östlichen zum Paul-Löbe-Haus am westlichen Ufer. Matthias Wermke hatte als Kind eine von britischen Touristen gefilmte Republikflucht im Westfernsehen gesehen und setzt die Bilder aus seiner Erinnerung um in eine eigene Handlung. Die politische Realität ist längst eine andere, und so entsteht dieses sonderbare Bild: der nackte kleine Mensch zwischen den Regierungsgebäuden am Reichstagsufer, der trotz der offensichtlichen Illegalität seiner Handlung mit einer gewissen Selbstverständlichkeit agiert.

Die Ruhe bei der Ausführung und die Stille der Stadt stehen in extremem Kontrast zu der historischen Vorlage des Films, einer dramatischen Flucht durch die Spree in den 1980er Jahren. Historische Bezüge lassen sich in einigen Arbeiten von Wermke Leinkauf ausmachen, und oft geht den Aktionen eine längere Recherchephase voraus. Dass sie dafür immer wieder Orte und Gebäude wählen, die für bestehende politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse stehen, verdeutlicht, dass es ihnen um mehr geht als um eine gelungene Performance. Im Gegenteil, das Scheitern wird als möglicher Nebeneffekt der nicht angemeldeten und meistens illegalen Aktionen in Kauf genommen.3

Der spektakulären akrobatischen Aktion haftet immer ein wenig die Aura der Zirkusnummer an, des Showbusiness oder der Kneipenwette nach einem Besäufnis. Das Erklettern von Gebäuden erfordert ein sehr hohes Maß an körperlicher Kondition und Koordination, regelmäßiges sportliches Training und vor allen Dingen eine Menge Mut und Selbstvertrauen – insbesondere wenn dies auf unbekanntem Terrain erfolgt wie bei der 2012 in Tokio realisierten Arbeit Drifter. Neben architektonisch bedeutenden Gebäuden wie dem Capsule Tower von Kisho Kurokawa oder dem Yoyogi National Stadium von Kenzo Tange versuchten Wermke Leinkauf auch das seit dem Atomunfall in Fukushima geschlossene Museum des Energiekonzerns Tepco zu besteigen. Die Geschichte dieses Gebäudes trug maßgeblich zu einer vorübergehenden Verhaftung der beiden Künstler bei.

Drifter verbindet in einer Installation aus über- und nebeneinander gestapelten Monitoren die zeitlich nacheinander durchgeführten Aktionen zu einer losen Narration, die durch die jeweiligen Loops der Einzelvideos immer wieder neu variiert wird. Die für jeden Ausstellungsort neu interpretierte Installation (in der Heilbronner Version erweitert um Videoaufnahmen aus Berlin und Heilbronn) zitiert dabei die dicht verschachtelte Architektur der japanischen Metropole. Über das Drehen und Kippen der Videobilder wird zudem suggeriert, dass eine Bewegung von einem zum nächsten Monitor stattfinden könne und die Dreidimensionalität der Architektur und der Monitore sich auf die zweidimensionalen Videobilder übertragen ließe.

Die Fotoserie Landmarks (2013), die das Prinzip früherer Arbeiten aufnimmt, Performances im Stadtraum zu dokumentieren, bringt ein neues Element ins Spiel: Selbstgenähte Fahnen wurden von den Künstlern an nahezu unerreichbaren Orten in Heilbronn platziert und markieren so, gleich einem Gipfelkreuz oder einer gehissten Flagge, die Denkmäler und Versorgungseinrichtungen der Stadt. Das Material für diese Fahnen wurde aus Warnwesten zusammengeschnitten, die Wermke Leinkauf bei vielen Realisierungen als Hilfsmittel dienten, um auffällig unauffällig unbehelligt im Stadtraum agieren zu können. Diese unter Sprayern verbreitete Strategie ist das Resultat langjähriger Erfahrungen im »Milieu«4, auf die beide auch bei anderen Aktionen (wie etwa bei der Draisinenfahrt auf den Gleisen der Berliner U-Bahn in Zwischenzeit) zurückgreifen können. Die Signalfarben der Westen leuchten von Fabrikschornsteinen, Kühltürmen und Strommasten wie die Insignien einer anarchistischen Bewegung, in deren politischem Programm der freie Zugang zu allen erreichbaren Orten gefordert wird. Die Fortunafigur am Heilbronner Fleinertorbrunnen wurde ebenfalls mit einer kleinen Fahne versehen, die, im Gegensatz zu den patchworkartigen größeren Flaggen, das Zeichen für »Denkmal« zitiert.

Im Zeitalter der digitalen Bildbearbeitung scheint der Wunsch nach authentischem Erleben größer denn je zu sein. Die von Mischa Leinkauf aufgenommenen Bilder könnte man problemlos per Photoshop oder mit modernen Video-Editing-Programmen generieren, doch hier geht es tatsächlich noch um den altmodischen Beweis à la Roland Barthes: »Es-ist-so-gewesen.«5 Wermke Leinkaufs Trophäen sind keine kapitalen Hirschgeweihe und Edelweißsträußchen, sondern die eingefangenen und gesammelten Bilder ihrer Aktionen. Dennoch entsprechen die in der Heilbronner Ausstellung integrierten Artefakte und Hilfsmittel gewissermaßen Teilen einer »Jagdausstattung«, die Tarnung (eine der Warnwestenfahnen ist dann auch gleich im Camouflage-Muster gestaltet), Sicherheit und Effizienz garantiert.

Ich und die Stadt — in Ludwig Meidners berühmtem Gemälde von 1913 wird die Großstadt als bedrohlicher Moloch dargestellt, der das Ich überfordert und überwältigt. Die Stadterfahrung bei Wermke Leinkauf hingegen ist eine durchweg positive und das Alleinsein in der Stadt (in der Nacht und den frühen Morgenstunden) die Voraussetzung dafür, darin frei agieren zu können. Die beiden sind offensichtlich so vertraut mit den Hinter- und Untergründen der Stadtkulissen, dass sie sich darin wie selbstverständlich und geradezu symbiotisch bewegen. Vermutlich gewinnen die Bilder daraus ihre besondere Atmosphäre: Sie zeigen, meist in der Totalen, den ameisenhaft kleinen Menschen, den die Stadt nicht erdrückt, sondern der sich agil in ihr bewegt und sie sich aneignet. Bas Jan Aders Fotoserie In Search of the Miraculous (One Night in Los Angeles) von 1973, in der er das nächtliche L.A. mit einer großen Taschenlampe durchstreift, vermittelt eine ähnliche, wenn auch bildnerisch ganz anders umgesetzte Intention: das individuelle Erforschen der Randzonen der Stadt, jenseits ihrer allgemein zugänglichen Infrastrukturen und losgelöst von einer zweckorientierten Geschäftigkeit.

Die Auseinandersetzung mit den Orten, an denen sie sich bewegen, geht bei Wermke Leinkauf weit über den performativen Akt im Stadtraum hinaus. Den Aktionen gehen, neben dem körperlichen Training, oft monatelange Recherchen in Archiven, eine genaue Beobachtung der Orte und Gespräche mit Bewohnern, Angestellten und Historikern voraus. So wird der Ortsbezug selbst in den Sitzgelegenheiten der Ausstellung hergestellt: Nach langem Suchen fanden sich im Keller einer Bretzfelder Gastwirtsfamilie zwei Kiliansbräu-Bierkisten von 1965. Diese stammen aus der seit 1982 geschlossenen Cluss-Brauerei, einem alteingesessenen Heilbronner Betrieb. Mit Kissen aus zerschnittenen Warnwesten versehen, sind sie ebenso Versatzstücke der Heilbronner Geschichte wie Willi Schöller und Leo Wörner, der Kiliansturm oder das Kraftwerk: keine Trophäen, sondern Artefakte für ein Museum der Alltagskultur.


  1. Lydia Yee, When the Sky Was the Limit; in: Laurie Anderson, Trisha Brown, Gordon Matta-Clark. Pioneers of the Downtown Scene New York 1970s, hg. v.. Barbican Art Gallery, London 2011, S. 20. 

  2. Vgl. hierzu Barbara Clausen, Performance: Dokumente zwischen Aktion und Betrachtung. Babette Mangolte und die Rezeptionsgeschichte der Performancekunst, Dissertation Universität Wien 2010, S. 94–101. 

  3. Zuletzt führte, im Rahmen der Vorbereitungen zur Ausstellung im Kunstverein, das Besteigen des Kühlturms des EnBW Kraftwerks in Heilbronn zur Verhaftung und einem Verfahren wegen Hausfriedensbruchs. 

  4. Siehe auch Matthias Wermke, Because it smells great! Fragmente zu Graffiti im Kontext zeitgenössischer Kunst, Diplomarbeit an der Kunsthochschule Weißensee, Berlin, 2012.  

  5. Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1985.