Autonomie und Alltag
Michael Bonk
 

Wenn Mischa Leinkauf und Matthias Wermke in den letzten Jahren zusammengearbeitet haben, sind dabei meist Filme entstanden, was zu dem Missverständnis führen könnte, sie wären ein Künstlerduo, das Videokunst macht.

Aber unabhängig von den im jeweiligen Moment gezeigten Filmen existieren dahinter medienunabhängig die Aktionen der Beiden, die auch darauf beruhen, dass zwei sehr unterschiedliche Akteure zusammen arbeiten, deren verschiedenen Herangehensweisen schließlich in einer gemeinsamen Handlung münden. Diese Handlung - sorgsam geplant oder auch mal schnell umgesetzt - vollzieht sich im alltäglichen Stadtraum. Einem Raum, der sich von den Künstlern nicht komplett kontrollieren lässt, weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen, auf die sie keinen Einfluss haben: Andere Menschen, Fahrplanänderungen, ungetestete Architekturelemente und andere ungeplante Ereignisse, die sich einfach nicht haben absehen lassen.

Was es nötig werden lässt, sich auf die im Zentrum stehende Handlung zu konzentrieren - sowohl hinter der Kamera, als auch vor der Kamera. Und diese Konzentration wiederum transportiert, fast als Beiprodukt, vieles, das ansonsten mühsam inszeniert werden müsste, sich zwar im späteren Film zuerst der zentraleren Spiel-Handlung unterzuordnen scheint, aber mit jeder Wiederholung (ein Mittel, das die Beiden sowohl in Aktion als auch in den gezeigten Filmen ausführlich nutzen) mehr hervortritt und worauf sich auch der Blick und die Konzentration des Protagonisten selbst richtet.

Eine Einsicht in Tiefen der Stadt. Der spezifische Klang einer bestimmten Situation. Das Nachlassen der Kräfte. Ein Gefühl im Fall.

(Jede Wiederholung erzeugt eine größere Beruhigung, die für die BetrachterInnen die Konzentration auf einzelne, vormals nebensächliche Aspekte ermöglicht und dabei schließlich die zu Beginn zentrale Handlung fast völlig in den Hintergrund treten und den meist vorhandenen Protagonisten fast komplett vergessen lassen.)

Am Beginn der jeweiligen Aktion steht meist die Vorstellung einer Handlung, die alltäglich sein könnte und möglich ist, aber unmöglich erscheint - allerdings nur deshalb, weil man sich in der Mehrheit an die scheinbar natürlichen Grenzen hält, die die gewohnte Nutzung von Straßen, Räumen, Gebäuden und anderer urbaner Infrastruktur vorgibt bzw. die man bei Anderen beobachtet und dann imitiert.

Die Nutzungen, die man in den Filmen von Wermke und Leinkauf sieht, widersprechen dem Gewohnten und lösen schon deshalb - oft fast zwangsläufig - die Reaktion aus, das Gesehene als ungewöhnlich und spektakulär einzuordnen bzw. zu empfinden - woran die immer ausgefeilteren Arrangements, die das Ganze dem Alltäglichen weiter entheben, sicher ihren Anteil haben. Lässt man sich davon allerdings nicht beeindrucken, wird relativ schnell deutlich, dass das, was zu sehen ist, möglich ist. Weil es Zweien, die wir sehen, möglich war.

Der Unterschied mag banal klingen, ist aber entscheidend: Würden die Beiden die gezeigten Situationen komplett oder größtenteils kontrollieren oder in einem sichereren Rahmen inszenieren, würden wir uns weiter im Bereich des Spekulativen aufhalten, den auch gute Spielfilme bedienen. Etwas das die Fantasie anregt, etwas das schön wäre, wäre es denn möglich. Dieses Spekulativ-Sehnsuchtsvolle besteht bei den Beiden nicht mehr, weil ihre Filme ihnen auch als Medium dienen, diese Sehnsucht auszuagieren und zu testen, ob es wirklich so unmöglich ist, wie es erscheint, im U-Bahn-Schacht, unter den Brücken über der Spree oder zwischen den Hochhäusern der Potsdamer Straße zu hängen und dabei die Stadt in Benutzung zu genießen, jenseits von Zweck und üblicher Nutzung. Ob man nicht die Gleise aus eigener Kraft befahren könnte, nur so zum Spaß, nicht unbedingt um von A nach B zu kommen. Man sieht einen homo ludens dabei zu (ein zweiter bleibt meist hinter der Kamera verborgen) wie er im realen Stadtraum mit konkreten Formen spielt, wie er sich in diesem Raum, unter dessen Bedingungen, mit vollem Körpereinsatz (inklusive Kopf!) ein Stück Freiraum schafft.

Die Filme, die Wermke und Leinkauf auf der einen Seite - in der Stadt - auch als eine Art Werkzeug zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen dienen, zeigen auf der anderen - im Ausstellungsraum - dann ausgewählte Teile dessen, was stattgefunden hat - und machen es uns damit möglich, anhand ihrer über Reales zu sprechen, nicht über Mögliches. Wir sind, wenn wir glauben und für real halten, was wir sehen, schon über den bequemen, sitzenden und diskutierenden Punkt hinaus, an dem es einzig Sinn ergibt, das Ganze formal oder theoretisch, spekulativ und als Möglichkeit zu besprechen. Stattdessen zwingt einen die dazu gekommene Ebene des Realen, auch dessen Aspekte, so es denn um das Besprechen überhaupt geht, mit einzubeziehen. Die Arbeiten provozieren Fragen wie die, was das heißen kann, dass dies möglich ist; oder die, ob, was wir sehen, eben doch nur ungewöhnlichen, besonders mutigen oder irgendwie anders besonderen Menschen möglich ist; oder die, ob das, was wir sehen, nicht doch ziemlich einfache Handlungen einer parallelen Alltagswelt sind. Was dann zwar möglicherweise die BetrachterInnen mit der von Wermke und Leinkauf schon ausgelebten Sehnsucht im Hier und Jetzt zurücklässt, aber mit einem Gruß aus einer zeitgleich existenten Wirklichkeit. Keinesfalls einer Utopie.

An diesem Punkt ergibt dann die Kategorie des Realen, oder eben Parallel-Realen, jenseits von 'Authentizität' unter deren Blickwinkel sie immer gern betrachtet wird, auch im Kunstkontext Sinn. Weil sie ermöglicht, dass in der Kunst und mit der Kunst über die Kunst hinausgehend gesprochen und vor allem auch gehandelt werden kann. Wenn man wie Wermke und Leinkauf und andere wieder in den Alltagsraum eintritt und dort seine Kunst ausübt, tauchen ziemlich schnell auch die in der Kunst längst vergessenen Stimmen mit noch vergesseneren Fragen auf: "Was macht der da?" Und vielleicht noch schneller: "Warum macht er das?". Dass sie sich an dem Punkt die im Kunstraum längst selbstverständliche Freiheit nehmen, diese Frage genauso unbeantwortet stehen zu lassen und an ihr Stelle eine Handlung setzen, die mit der Frage nur sehr bedingt zu tun hat, weil sie aus einer anderen Logik heraus agiert, dokumentiert, dass es möglich ist, die Autonomie der Kunst in die Alltagswelt zu übertragen, in der die 'ganz normalen' Regeln und Bedingungen gelten. Es zeigt sich, dass auch dort, wo sonst die sogenannte Realität herrscht, die über KünstlerInnen- und KritikerInnengenerationen erarbeitete Freiheit von Sinn und Zweck in einem erwachsenen Spiel mit den Bedingungen möglich ist.